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„Gerecht“ und „nachhaltig“ sind Schlüsselworte des Programms der deutschen Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU). Gleichzeitig strebt Deutschland eine „Modernisierung“ der Welthandelsorganisation (WTO) und „zügige Fortschritte“ bei den Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten, Neuseeland und Australien an. Sind diese Ziele wirklich kompatibel? Dürfen wir uns Gedanken um Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit machen, während wir so weitermachen wie bisher?
Die Antwort ist nein. Anstelle einer Ausweitung der EU-Freihandelsagenda könnte die Präsidentschaft die derzeitige Ausnahmesituation für radikale Reformen des europäischen und weltweiten Handelssystems nutzen. In diesem Beitrag empfehlen wir der EU, Handelsgespräche auszusetzen und schlagen drei Ideen für eine transformative Handelsagenda vor: (1) Aussetzung des Handels von Fleisch- und Tierprodukten, (2) Haftbarmachung unserer Unternehmen in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte und (3) Regulierung der Rohstoffpreise.
Gegen Handel an sich kann niemand etwas haben. Gleichwohl hat die exzessive Liberalisierungsagenda der vorangegangenen Jahrzehnte zu schwerwiegenden Problemen geführt. Die europäische und internationale Handelsagenda wurde in einem Ausmaß vertieft und erweitert, das den Gesamtnutzen nach der Vorstellung von Adam Smith und Co. zur Nebensache machte (bzw. ins Negative verkehrte), während Profite überwiegend an multinationale Konzerne gehen. Der „Freihandel“ mit Ländern des globalen Südens ist durch den kleiner werdenden politischen Handlungsspielraum und die Aufrechterhaltung neokolonialer Machtverhältnisse besonders problematisch.
Diese Beobachtungen sind nicht neu. Aktivisten, Bürgerrechtsbewegungen, Parlamentarier und andere kritische Beobachter wenden sich seit den neunziger Jahren vehement gegen das Freihandelsparadigma. Derzeit wird das EU-Mercosur-Abkommen nicht nur wegen seiner Auswirkungen auf die europäische Landwirtschaft, sondern auch für seine schwachen Nachhaltigkeitsbestimmungen angegriffen. Die Parlamente Belgiens, Österreichs, Irlands, Luxemburgs und sogar der Niederlande sprechen sich gegen das Handelsabkommen aus. Der Abschluss des Abkommens wird eine Herausforderung für die deutsche Präsidentschaft – eine Herausforderung, die nicht angenommen werden sollte.
Die COVID-19-Pandemie unterstreicht einmal mehr die Anfälligkeit globaler Lieferketten. Nicht nur für „uns“ in Europa, wo es an Test- und Schutzmaterial fehlt, sondern auch für „die“ im globalen Süden, wo die Exporte radikal einbrachen, ohne dass adäquate Sicherheitsnetze vorhanden gewesen wären.
Die Freihandelsagenda ist Teil unseres Wachstumsmodells. Sie beruht auf der Grundlage, dass ein freier Handel Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftliches Wachstum (in Bezug auf das BIP) und – im weiteren Sinne – Wohlstand und Wohlergehen stimuliert. Viele der dieser Argumentation zugrunde liegenden Annahmen wurden durch alternative Visionen in Zweifel gezogen, die Degrowth-, Postwachstums-, Postentwicklungs-, Alltags-, Kreislauf- und andere Donutökonomien fordern. Gemein ist all diesen unterschiedlichen Ansichten eine kritische Haltung gegenüber dem Freihandelsdogma und dem Fluch des Protektionismus.
Gleichwohl scheinen diese Ideen in Brüssel noch nicht angekommen zu sein. Bislang liegt die Antwort der EU-Handelspolitik darin, für mehr Liberalisierung mit begrenzten und temporären Ausnahmen einzutreten. Der Dreier-Vorsitz (Deutschland zusammen mit Slowenien und Portugal) strebt nicht nur den Abschluss der Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten, Neuseeland und Australien, sondern auch Fortschritte in den Handelsgesprächen mit Mexiko, Chile, China und Indien an.
Stattdessen sollten die laufenden Verhandlungen über die jüngsten Handelsabkommen mit Japan, Kanada, Vietnam, der Andenregion und mehreren afrikanischen Ländern und Regionen aufgegeben werden. Dies würde eine sorgfältige Prüfung ihrer Relevanz für eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen. Derzeit erfolgen die Nachhaltigkeitsprüfungen (SIAs) der EU-Handelsabkommen mit beschämender Verzögerung und sind blind für die weiteren Auswirkungen des Wachstumsparadigmas. So erschien die SIA zum EU-Mercosur-Abkommen erst im Juli 2020.
Die Lösung liegt nicht in einer von der EU und der deutschen Präsidentschaft angestrebten „Modernisierung“ der WTO, sondern vielmehr in der Suche nach gerechteren und nachhaltigeren Alternativen.
Die Europäische Kommission wird darauf hinweisen, dass sie ihren handelspolitischen Einfluss geltend machen wird, um nachhaltige Entwicklungsziele in einem separaten Kapitel in ihren Handelsabkommen zu verfolgen. In der Realität ist genau das Gegenteil der Fall: Diese Kapitel dienen als Hebel zur Überzeugung des öffentlichen Meinungsbildes und der Parlamente, um die Handelsabkommen zu ratifizieren.
Auch die WTO kann aufgegeben werden. Dies ist kein wirklich radikaler Schritt: Er dreht die Zeit lediglich um 25 Jahre zurück, als noch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) galt. Trotz seiner Mängel bildete das GATT-Abkommen zumindest einen bescheideneren Rahmen für die Liberalisierung des Warenverkehrs zwischen Industrieländern. Dieser erlaubte es den Regierungen, eine sozioökonomische Politik zur Förderung der Bildung von Sozialstaaten im Westen zu verfolgen. Die Verpflichtungen der WTO gehen viel weiter, sind tiefgreifender und einschneidender. Dies wird in erster Linie von den schwächeren Mitgliedern so empfunden. Tatsächlich wirken die Regelungen und Streitbeilegungsbestimmungen der WTO nur dann effektiv, wenn sie den Interessen der größten Volkswirtschaften dienen – wie die Sackgassen der Doha-Agenda und des Berufungsgremiums zeigen. Daher liegt die Lösung nicht in einer von der EU und der deutschen Präsidentschaft angestrebten „Modernisierung“ der WTO, sondern vielmehr in der Suche nach gerechteren und nachhaltigeren Alternativen.
Ein offensichtlicher erster Schritt wäre die Beendigung des internationalen Handels für Fleisch und Tierprodukte. Die mit der Viehhaltung verbundenen desaströsen klimatischen Auswirkungen und das unnötige Leid der Tiere sind hinreichend belegt. Dieses Geschäft ist darüber hinaus auch in „hochentwickelten Volkswirtschaften“ wie beispielsweise Deutschland gekennzeichnet durch unsägliche Arbeitsbedingungen (wie der COVID-19-Ausbruch im deutschen Schlachthof Tönnies gezeigt hat). Darüber hinaus weisen Kritiker auf den Zusammenhang zwischen zoonotischen Epidemien und dem Wachstum der industriellen Landwirtschaft hin.
Der weltweite Fleischhandel zeigt, wie weit das Handelssystem bereits entgleist ist. Der Import von Soja aus dem entwaldeten Amazonasgebiet in Brasilien (der durch das EU-Mercosur-Abkommen erleichtert werden soll) als Futter für die Schweineerzeugung in Belgien, der unsere Böden vor dem Export nach Ghana, in die Elfenbeinküste oder nach Korea (erneut dank der EU-Freihandelsabkommen mit diesen Ländern) verschmutzt... das alles klingt nicht wirklich nach Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, oder?
Das Tierwohl wird in den Programmen des deutschen Vorsitzes und der Dreier-Präsidentschaft erwähnt, allerdings nur beiläufig und unter Verweis auf die „Lebensmittelkennzeichnung.“ Wenn wir soziale, gesundheitliche und umweltbezogene Belange und das Tierwohl ernst nehmen, müssen Import und Export vormals lebender Tiere für den menschlichen Verzehr irgendwann eingeschränkt werden.
In diesem Bereich besteht noch viel Raum für ambitionierte Maßnahmen. Die Covid-19-Krise hat den lokalen und regionalen Handel gefördert und sogar einen Trend zu einer mehr pflanzlichen Ernährung ausgelöst. Anstatt den Versuch zu unternehmen, mit noch mehr Handelsabkommen sogar noch mehr tierische Produkte rund um den Globus zu schicken, sollten die politischen Entscheidungsträger diese gesellschaftlichen Tendenzen ernst nehmen und in ihre Überlegungen zur Zukunft des Handels einbinden.
Die Preise für Rohstoffe und landwirtschaftliche Erzeugnisse sind typischerweise rückläufig und instabil. Die Folgen sind erheblich: Geringe Preise führen dazu, dass landwirtschaftliche Erzeuger leiden, während hohe Preise durch Nahrungsmittelkrisen bedingte Unruhen und Hungersnöte verursachen. Solche Schwankungen entstehen nicht allein aus den „objektiven“ Gesetzen von Angebot und Nachfrage: Wie die Dependencia-Theoretiker bereits in den sechziger Jahren gezeigt haben, sind sie auch von der Funktionsweise der globalen Märkte vorgegeben. Letztere werden von oligopolistischen Firmen (wie z. B. Nestlé) dominiert und durch intensive Finanzspekulationen (z. B. durch das Chicago Board of Trade) manipuliert.
Lösungen würden Maßnahmen zur Steuerung des Angebots tropischer Rohstoffe im internationalen Handel erfordern. Die UNCTAD könnte in Anbetracht ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in Handelsentwicklungsfragen und ihrer Legitimität mit dem globalen Süden eine Schlüsselrolle spielen. Aus den verhängnisvollen Rufen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung in den fünfziger und sechziger Jahren könnten entsprechende Lehren gezogen werden. Darüber hinaus könne das „COPEC“-Experiment eine Inspiration sein. 2019 haben die Elfenbeinküste und Ghana eine „Kakao-OPEC“ gegründet, die einen Mindestpreis, ein „Living-Income-Differential“ und einen Stabilisierungsfonds vorsieht. Diese Initiative soll Arbeitskräften am unteren Ende der Kakao-Lieferkette ein höheres und stabiles Einkommen garantieren. Idealerweise bekämpft sie auch die mit Kinderarbeit, Überproduktion und Entwaldung verbundenen Probleme, von denen der Kakaosektor betroffen ist.
Auch wenn die Erfolge dieser Initiative weiterhin ungewiss sind, sollte eine sorgfältige Prüfung durch die EU erfolgen. Bei einem Erfolg könnte dieses System bedeutender sein als fünfzig Jahre Fairtrade-Initiativen und Entwicklungsprogramme in Westafrika. Politische Entscheidungsträger in Europa könnten Kakaoimporteure verpflichten, dem Programm beizutreten. Vergleichbare Initiativen für andere Produkte und mit anderen Ländern – innerhalb und außerhalb der EU – könnten ebenfalls erwogen werden.
Die EU könnte eine rechtliche Haftung unserer (europäischen) Unternehmen für Verfehlungen in den Lieferketten etablieren. Derzeit tendiert man dazu, sogenannte Entwicklungsländer entsprechend ihrer Einhaltung von Menschenrechten, Beschäftigungsstandards und Umweltnormen entweder zu „bestrafen“ oder zu „belohnen“. Diese Haltung spiegelt sich auch im niederländisch-französischen Non-Paper zur Handelsreform im Mai 2020 und der wahrscheinlichen Verhängung von Handelssanktionen gegen Kambodscha durch die EU am 12. August 2020 wider. Rechtsvorschriften für Unternehmen und Menschenrechte würden solche neokolonialen Interferenzen vermeiden und die Verantwortung wieder auf unsere Unternehmen übertragen, die (in-)direkt und in schwerwiegender Weise gegen die ethischen Grundsätze verstoßen, die wir zu schützen vorgeben.
Die Covid-19-Krise hat einmal mehr die Verwundbarkeit der Arbeitskräfte in der Textil- und IT-Industrie sowie der Landwirtschaft aufgezeigt. Modegiganten haben Aufträge storniert oder gelieferte Kleidung nicht bezahlt – mit desaströsen Folgen für Frauen, die in den Textilindustrien von Bangladesch und Myanmar arbeiten. Als ethisch orientierte Verbraucher können wir versuchen, C&A zu boykottieren, aber eine Rechtsgrundlage, einen derartigen Missbrauch von Marktmacht zu ahnden, besteht nicht.
Weitere Vorteile verbindlicher Rechtsvorschriften lägen darin, dass unsere Unternehmen keine hochtrabenden Erklärungen zu unternehmerischer Sozialverantwortung (CSR) mehr verfassen müssten und wir als Verbraucher uns nicht länger durch unterschiedliche Produktkennzeichnungen arbeiten müssten. Anstelle des „liberalistischen“ Fairtrade-Ansatzes würden europäische Regierungen wieder Verantwortung übernehmen. Die Corona-Krise erinnert uns daran, dass Regierungen eine grundlegende Verantwortung haben, unsere Gesundheit zu schützen; in gleicher Weise können wir staatliche Garantien erwarten, dass importierte Produkte nicht durch Zwangsarbeit oder starke Umweltbelastungen „infiziert“ sind.
An dieser Front geraten die Dinge bereits in Bewegung. 2021 wird die Europäische Kommission Rechtsvorschriften zu verpflichtenden Due-Diligence-Prüfungen für europäische Unternehmen vorlegen. Erfahrungen mit einem vergleichbaren französischen Gesetz aus dem Jahr 2017 zeigen, dass solche Verpflichtungen für alle Unternehmen gelten und ausreichend konkret formuliert sein sollten. Im Juli 2020 empfahlen zwei deutsche Minister ein Lieferkettengesetz für deutsche Unternehmen gegen Ausbeutung. Dies würde es der deutschen Präsidentschaft, die sich der Unterstützung unternehmerischer Sozialverantwortung verpflichtet hat, erlauben, in Bezug auf einen (unverbindlichen) „EU-Aktionsplan“ eine führende Rolle in den europäischen Debatten über dieses Thema einzunehmen. In gleicher Weise könnte Deutschland EU-Mitgliedstaaten in UN-Verhandlungen zu einem verbindlichen Abkommen über transnationale Unternehmen und Menschenrechte einbinden. Seit der Aufnahme der Verhandlungen im Jahr 2014 hat die EU ein ambitioniertes Abkommen erfolgreich gebremst.
Kritiker des Freihandels werden entweder als altmodische Protektionisten bezeichnet, die uns in die nächste Depression und einen Weltkrieg stürzen oder als naive Gutmenschen, die prähistorische Lebensstile idealisieren und die Vorteile der Globalisierung nicht verstehen. Ergänzt man diese Einstellung um eine selektive Falschauslegung von Smith-Ricardo, Fehlinterpretationen der Fortschritte in der Bekämpfung weltweiter Armut und den Kaffee-Kult, ist das derzeitige Handelssystem ausreichend legitimiert.
Wir könnten profitieren von einer gewissen mentalen Distanzierung gegenüber der Logik, dass eine immer größere Ausweitung des Handels uns allen nutzt.
Allerdings wächst die Unzufriedenheit mit diesem System. Bislang machen sich rechtsextreme Populisten diese Haltung zu eigen. Die politischen Entscheidungsträger in Europa wären gut beraten, transformative Alternativen sorgfältig zu prüfen. Die laufende handelspolitische Überprüfung (Trade Policy Review) der Europäischen Kommission, die eine öffentliche Konsultation beinhaltet, kann diesbezüglich eine Chance darstellen.
Unsere Vorschläge sind nicht so radikal, wie sie vielleicht scheinen. Anstatt das WTO-System wiederzubeleben und das EU-Netz aus Handelsabkommen weiter zu spinnen, könnten wir durchaus von einem „Lockdown“ bei den Handelsgesprächen und einer gewissen mentalen Distanzierung von der Logik, dass eine immer größere Ausweitung des Handels uns allen nutzt, profitieren. Das bedeutet nicht, dass wir den Handel insgesamt einstellen, sondern vielmehr eine unausgewogene Situation, die wir über die vergangenen Jahrzehnte geschaffen haben, wieder ins Gleichgewicht bringen und auf der Basis der neuesten Erkenntnisse zu Degrowth, Postentwicklung und globaler Gerechtigkeit ein besseres Wirtschaftssystem aufbauen.