Ist die Weltgemeinschaft im Kampf gegen Hunger noch auf Kurs?
Der Welthunger-Index (WHI) 2020 zeigt: Die Welt ist nicht auf Kurs, um das international gesteckte Ziel “Kein Hunger bis 2030” zu erreichen. Beim derzeitigen Tempo werden etwa 37 Länder bis 2030 nicht einmal ein niedrigesHungerniveau erreichen.
Wie sieht die Hunger-Entwicklung der vergangenen fünf Jahre aus?
Nach jahrelangem Rückgang der Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend Zugang zu Kalorien haben, steigt die Zahl seit 2015 wieder. Davon sind insbesondere Afrika südlich der Sahara und Südasien betroffen. Doch auch im Hinblick auf die weiteren Indikatoren, die der WHI nutzt, zeigen sich besorgniserregende Trends. Im Vergleich zum Referenzjahr 2012, hat sich der WHI-Wert in 14 Ländern der Kategorien mäßig, ernst und sehr ernst verschlechtert. Oftmals bedingt durch einen erhöhten Anteil von Kindern, die an unterschiedlichen Formen von Hunger leiden und dadurch in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. Dies zeigt sich etwa in Auszehrung (zu leicht für ihre Größe, ein Zeichen für akute Unterernährung) oder Wachstumsverzögerung (zu klein für ihr Alter, ein Zeichen für chronische Unterernährung).
Und in einem längeren Rückblick seit 2000?
Global betrachtet hat sich die Hungersituation in den letzten 20 Jahren sukzessive verbessert. Viele Länder haben enorme Fortschritte gemacht. Sierra Leone, Äthiopien und Angola haben sich nach dem Ende von Kriegen um zwei WHI-Kategorien verbessert. Im Jahr 2000 war die Situation dort noch gravierend, heute ist sie als ernst einzustufen. Das zeigt: Es ist möglich, den Hunger zu reduzieren. Es bleibt jedoch viel zu tun.
Kann man das Jahr 2020 auch im übertragenen Sinne als „Seuchenjahr“ bezeichnen?
Das Jahr 2020 ist sicherlich ein außergewöhnliches Krisenjahr. Doch neben der Covid-19-Pandemie sind es vor allem zunehmende Extremwetterereignisse und wirtschaftliche Krisen, die uns vor enorme Herausforderungen stellen. Vermutlich werden wir in Zukunft mehr davon sehen, wenn wir nicht jetzt und entschieden gegensteuern. Die multiplen Krisen im Jahr 2020 haben uns erneut vor Augen geführt, dass unser menschliches Handeln sich zunehmend negativ auf den Planeten auswirkt und wir damit nicht nur die Gesundheit von Tieren, Pflanzen und unserer Umwelt riskieren, sondern auch unsere eigene Gesundheit aufs Spiel setzen. Neuartige Infektionskrankheiten sind unter anderem auf Zerstörung natürlicher Lebensräume durch Landdegradation, Klimawandel und Ressourcenausschöpfung zurückzuführen. Dies steht in direktem Zusammenhang mit unserem Lebensstil und zum Beispiel der erhöhten Nachfrage nach (intensiv produzierten) Tierprodukten sowie nicht nachhaltiger Landwirtschaft.
Welche Gefahren leiten sich aus den Geschehnissen von 2020 (Pandemie, Wirtschaftskrise, Heuschrecken) für die kommenden Jahre ab?
Insbesondere die zeitlich immer enger werdenden Abfolge der Krisen ist eine große Gefahr für nachhaltige Entwicklung – die betroffenen Menschen haben nicht mehr die Möglichkeit sich von einer Krise zu erholen, da oft fast unmittelbar die nächste folgt oder sogar zu einer bestehenden hinzukommt. Das hat ganz stark auch mit den Folgen des Klimawandels zu tun – den man, dass muss man immer wieder betonen, noch bremsen könnte. Uns als Organisation, die wir die Menschen bestmöglich unterstützen wollen, Resilienzen aufzubauen, erschwert die Verdichtung der Krisen natürlich auch die Arbeit. Wir müssen zunächst humanitäre Hilfe leisten, dürfen aber auch die auf Nachhaltigkeit gerichteten Entwicklungsprojekte nicht vernachlässigen. Nachhaltige Entwicklung braucht Zeit, die aber eben immer knapper wird.
Das Hauptproblem ist eigentlich die extreme Ungerechtigkeit innerhalb der Ernährungssysteme.
Gegen Konflikte als Hungertreiber ist schwer etwas zu unternehmen. Was schlagen Sie vor?
Tatsächlich sind Konflikte leider nicht durch Organisationen der humanitären Hilfe oder Entwicklungszusammenarbeit zu lösen. Hierzu braucht es insbesondere politische und gesellschaftliche Lösungen und auch den Willen, diese umzusetzen. Wir versuchen diese Prozesse mit unserer Politikarbeit zum Positiven zu beeinflussen, aber auf die Krisen, die während dieser langsamen politischen und auch gesellschaftlichen Prozesse auftreten, muss man reagieren – das Vertrösten auf politische Lösungen macht niemanden satt. Und, das muss man betonen, es geht hier nicht um eine diffuse moralische Verpflichtung, die wir verspüren – das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht. Was wir tun können, ist die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen zu stärken. Um es plakativ zu sagen, man kann ein Erdbeben nicht verhindern – sich aber auf die Folgen vorbereiten, um schneller wieder aus der Krise herauszukommen. So verhält es sich auch mit den Folgen des Klimawandels und Konflikten. Wir verstehen unsere Arbeit zur Stärkung der Ernährungssicherheit auch als Beitrag zur Konfliktprävention. Dass das oft wie Sisyphusarbeit anmutet, muss man zugeben. Nichtstun ist nur eben für uns keine Alternative – zumal der WHI auch ermutigende Trends zeigt, denn einige Länder haben den Hunger beachtlich reduziert. Es ist also möglich.
Was sind die Fehler unserer Ernährungssysteme?
Das Hauptproblem ist eigentlich die extreme Ungerechtigkeit innerhalb der Ernährungssysteme. Einerseits werden hohe Standards für soziale Absicherung, Gesundheit und Lebensmittelqualität in den Ländern des globalen Nordens gesetzt und eingefordert, hingegen wird der globale Süden in diese Überlegungen nicht oder unzureichend einbezogen oder gar beteiligt. Ein Beispiel: Die meisten einkommensstarken Länder leisten internationale Entwicklungszusammenarbeit, um die Produktion
und das Einkommen von Kleinbäuerinnen und -bauern in einkommensschwachen Ländern zu steigern, während sie gleichzeitig ihre Handelsvorteile mittels nichttarifärer Handelshemmnisse aufrechterhalten. Im globalen Norden sind Besitz- und Eigentumsverhältnisse bis ins kleinste Detail geregelt – in den Ländern des globalen Südens, in denen Landbesitzrechte oftmals ungesichert sind, ist Landnahme ein verbreitetes Problem. Häufig werden solche Landnahmen, die die Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern, Viehhirt*innen und indigenen Völkern und damit verbundene Ernährungsunsicherheit zur Folge haben, durch Finanz- und Agrarkonzerne vorangetrieben. Um im Norden eine breite und günstige Palette an Lebensmitteln anbieten zu können, werden teilweise niedrige Umwelt- und Sozialstandards in Ländern des Südens ausgenutzt. Die mangelnde soziale Sicherheit und die Umweltzerstörung verschlimmern die Lage so, dass immer größere Abhängigkeiten geschaffen und wie in einem Teufelskreis immer größere Zugeständnisse gegenüber den Ländern des Nordens gemacht werden müssen. Themen wie z.B. Nachhaltigkeit werden da als erstes über Bord geworfen – eine Abwärtsspirale. Um diese Abwärtsspirale zu stoppen, müssen wir unsere Ernährungssysteme so umgestalten, dass sie fair, gesund und umweltfreundlich werden.
Wie können sie widerstandsfähiger gemacht werden?
Um unsere Ernährungssysteme fairer, nachhaltiger und widerstandfähiger gegen Krisen zu machen, müssen wir die Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, handeln und konsumieren angehen. Am Beispiel von Kakao können wir sehen, wie globalisiert unsere Ernährungssysteme heute sind: Der Kakao, der auf einem kleinbäuerlichen Betrieb in Sierra Leone angebaut wird, landet über viele Zwischenschritte als Schokolade in unserem Einkaufskorb – oftmals für weniger als einen Euro. Was kommt dabei bei der Kleinbäuerin an und wie soll sie damit ihre Ernährung sicherstellen? Dieses System muss stärker ganzheitlich betrachtet werden – dann zeigt sich auch, dass es zahlreiche Stellschrauben gibt. Ein Faktor ist nachhaltige Produktion, die nicht zu Landdegradation, Biodiversitätsverlust, und Klimawandel beiträgt. Darüber hinaus müssen lokale und regionale Wertschöpfung und Nahrungsmittelmärkte gestärkt werden. Die Einhaltung von Menschenrechts- und Umweltstandards muss in der Wertschöpfung und entlang der gesamten Lieferkette rechtlich verbindlich sein, einschließlich fairer Einkommen für Produzent*innen. Das klingt erst mal sehr abstrakt – an dem folgenden Beispiel kann man jedoch zeigen, wie das Thema von unseren Partnerorganisationen und uns angegangen wird: Mit einem gemeinsamen Projekt stärken Concern Worldwide und die Welthungerhilfe die Resilienz und Ernährungssicherheit in der Region Masisi in der DR Kongo. In dieser bedeutenden Zielregion für Binnenvertriebene steht das Ernährungssystem unter Druck. Daher zielt das Projekt darauf ab, die landwirtschaftliche Produktion und das Wissen über Ernährung, den Zugang zu Wasser, die Diversifizierung der Existenzgrundlagen und die wirtschaftliche Ermächtigung der Teilnehmenden zu verbessern. Es unterstützt die Gemeinden dabei, potenzielle Katastrophen zu identifizieren, sich darauf vorzubereiten und ihnen vorzubeugen. Kleinbäuerliche Haushalte werden durch die Bereitstellung von Saatgut, Werkzeugen und Schulungen, die Förderung der Landnutzungsplanung sowie durch die Verbesserung ihrer Vermarktungsstrategien unterstützt. Die Unterstützung bei der Gründung von Kleinstunternehmen oder der Suche nach Arbeit richtet sich speziell an Frauen und junge Erwachsene. Das Projekt arbeitet eng mit lokalen Organisationen, Landwirtschaftsgruppen, Familien in ländlichen Gebieten und staatlichen Institutionen zusammen, um in den Gemeinden langfristige Kapazitäten aufzubauen. Projekte wie dieses verdeutlichen einige Stellen, an denen auch Politik und Wirtschaft ansetzen sollten, um Ernährungssysteme widerstandfähiger zu machen.
Sie fordern einen One-Health-Ansatz. Was beinhaltet dieser?
Ein One-Health-Ansatz hilft zum einen, die Zusammenhänge zwischen der Gesundheit des Menschen, sowie der Gesundheit von Tieren, Pflanzen, und unserer gemeinsamen Umwelt aufzuzeigen. Zum anderen fordert er ein, diese Bereiche in der Politikgestaltung zusammen zu denken. Die gegenwärtigen Krisen haben einmal mehr gezeigt, wie wichtig es ist, integrierte Ansätze zu nutzen, über Sektoren hinweg zu kooperieren und Politiken kohärent zu gestalten.
Statt bei null könnte die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, bis 2030 bei 840 Millionen liegen.
Was ist sofort zu ändern?
Über die Hälfte der Weltbevölkerung ist im Krisenfall nicht sozial abgesichert. Sie können nicht wie beispielsweise die meisten Menschen hier in Deutschland auf ein soziales Sicherungsnetz des Staates zurückgreifen. Die Auswirkungen zeigen sich im Angesicht der multiplen aktuellen Krisen. Akut bedarf es daher vor allem einer Ausweitung der sozialen Sicherungsprogramme. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass Menschen trotz Covid-19-Eindämmungsmaßnahmen weiterhin Zugang zu Märkten und landwirtschaftlichen Betriebsmitteln haben, um die Nahrungsversorgung aufrecht zu erhalten. Aber auch jede*r Einzelne hier in Deutschland kann schon heute mit den täglichen Kaufentscheidungen einen Beitrag leisten, zum Beispiel durch Konsum regionaler, saisonaler, oder fair gehandelter Produkte.
Was, glauben Sie, wird im Jahr 2030 unsere Bilanz sein?
Aktuelle Prognosen sind düster. Statt bei null könnte die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, bis 2030 bei 840 Millionen liegen. Die Covid-19 Pandemie und ihre Folgen drohen Unterernährung bei Kindern dramatisch zu verschärfen. Doch der WHI zeigt auch, dass es möglich ist, den Hunger zu reduzieren. Vor allem Bedarf es an politischem Willen, denn Hunger ist politisch. Wenn unter anderem zielgerichtete Investitionen in ein faires Ernährungsumfeld für Kleinbäuerinnen und -bauern im ruralen Raum getätigt werden, Landwirtschafts-, Gesundheits-, und Handelspolitik kohärent gestaltet werden, dann können wir den Hunger bis 2030 beenden.