Bauern in Aufruhr – ihre Bewegung bringt Einheit und Hoffnung

Das Schwellenland Indien liegt im Ranking des Welthungerindex zwischen Ländern wie Äthiopien und Ruanda. Dabei garantiert seit 2014 ein Gesetz für alle Inder ausreichend gesunde Nahrung zu erschwinglichen Preisen. Nun erschüttert eine der größten Protestwellen in der Geschichte den Subkontinent. Landwirte wehren sich gegen Gesetze, die Mindestpreise abschaffen und Ernährungsprogramme in Gefahr bringen. Der indische Journalist Bharat Dogra hat im April 2021die Zusammenhänge analysiert.

Ein Protestmarsch von Bauern in Indien. Seit dem Herbst 2020 demonstrieren Landwirte vor allem an den Toren der Hauptstadt Delhi gegen die Liberalisierung des staatlichen Preis- und Vermarktungssystems. © CC 1.0 Wikimedia / Randeep Maddoke

Von Welthungerhilfe (WHH)

Die Deutsche Welthungerhilfe e. V., kurz Welthungerhilfe, ist eine konfessionell und politisch unabhängige, gemeinnützige und nichtstaatliche Hilfsorganisation der Entwicklungszusammenarbeit und der Nothilfe.

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Der November ist normalerweise ein Monat des angenehmen Wetters und der Feste in Neu-Delhi, aber an diesem November 2020 nahmen die Ereignisse eine andere Wendung. Bauern zogen zu Tausenden in Richtung der indischen Hauptstadt und wurden an den Stadtgrenzen von einem riesigen Polizeiaufgebot gestoppt. Doch sie ließen sich nicht einschüchtern und begannen eine ständige Mahnwache. Indiens Bauern haben ein schweres Los, häufig türmen sich erdrückende Schulden auf, für die sie ihr Land und ihre Existenz aufs Spiel setzen. Mehr als acht von zehn landwirtschaftlichen Betrieben sind Kleinbauern auf Parzellen unter zwei Hektar. Sie werden erdrückt von dem, was als Preis der „grünen Revolution“ gilt: stetig und zuletzt stark steigende Kosten für Kunstdünger und Pestizide, um auf ausgelaugten Böden den Ertrag zu halten.

 

Zum Raubbau an der Natur gesellt sich ein ausbeuterisches Umfeld: In den Dörfern entscheiden Geldverleiher, wer noch Kredit bekommt, und das zu höheren Zinsen als in Banken. Sie sind auch meist die Zwischenhändler, die den Kleinbauern die Früchte ihrer Arbeit abkaufen – zu den von ihnen bestimmten Preisen. Den Zündstoff für die Proteste lieferten drei Gesetze der Regierung Modi. Sie zielen auf die Öffnung von bisher geschützten Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse.

 

Unter der Bauernschaft hat sich der Eindruck verfestigt, dass die landwirtschaftliche Entwicklungspolitik in die Hände der Großbetriebe spielt zulasten der kleinen und mittleren Betriebe.

 

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Szene von einem "Apni Mandi" in Chandigarh. Die Verwaltung schuf "unsere eigenen Märkte" für die Direktvermarktung von Feldprodukten ohne Mittelsmänner. © CC 2.0 Koshy Koshy

Bislang verkauften die meisten indischen Bauern den Großteil ihrer Erzeugnisse auf staatlich kontrollierten Großhandelsmärkten oder Mandis – und zwar zu Basis- oder Mindestpreisen, die vor jeder Aussaat zentral für ganz Indien festgelegt werden. Die Mandis werden von den Bundesstaaten reguliert. Demnach erfolgt der Verkauf von Agrarrohstoffen in einem System von Lizenzen, Steuern und Abgaben nur an diesen Märkten, an denen Großgrundbesitzer, große Getreidehändler und Verkaufsagenten mitwirken. Die drei Gesetze verstärken nun im Zusammenspiel die Marktmacht der Agrar- und Lebensmittelindustrie. Das erste Gesetz soll die Vertragslandwirtschaft erleichtern, die auf Absprachen beruht. Die Bauern befürchten allerdings aus Erfahrung, dass sie zum Kauf von teuren Betriebsmitteln und unfairen Preise gezwungen werden. Im Ergebnis wird noch mehr angebaut, was große landwirtschaftliche Unternehmen abnehmen, vor allem Exportware anstatt vielfältiger Grundnahrungsmittel für die eigene Ernährungssicherheit.

 

Das zweite Gesetz sieht ein Marktsystem ohne Steuern und Abgaben außerhalb des regulierten Marktes vor. Die Landwirte befürchten, dass dieses zwangsläufig den regulierten Markt verdrängen wird. Die dritte Änderung betrifft die Lagerhaltung – bislang auch eine staatliche Domäne, mit unzureichender Infrastruktur und überquellenden Getreidesilos. Große Unternehmen erhalten forthin die Möglichkeit, Grundnahrungsmittel zu horten, ohne dass sie über den tatsächlichen Bedarf Rechenschaft ablegen müssen. Bauernverbände kritisieren, dass damit eher eine neue Gewinnquelle für Unternehmen geschaffen werde, anstatt den Grundbedarf der Bevölkerung zu decken.

 

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Indien war 2019 wertmäßig der größte Reisexporteur und international nach China das größte Anbauland des Grundnahrungsmittels. © WHH

In den fruchtbaren Gebieten von Punjab, Haryana und dem westlichen Uttar Pradesh hängt ein großer Teil der Farmer von dem Mandi-System ab, aber auch darüber hinaus vertrauen Landwirte auf die Garantiepreise. Auch in anderer Hinsicht hat sich die staatliche Beschaffung insbesondere von Weizen und Reis – und in geringerem Umfang auch von anderen Grundnahrungsmitteln – zu Mindestpreisen bewährt. So sind angemessene Vorräte gewährleistet, und die Regierung kann daraus verbilligte Nahrungsrationen für bedürftige Familien unter der Armutsgrenze verteilen. Die Änderungen drohen die kontinuierliche Versorgung der Armen und Unterernährten zu gefährden. Experten plädieren dafür, die Gesetzesinhalte zu überprüfen. Auch die bekannte Aktivistin Medha Patkar unterstützt die Rücknahme der Gesetze, weil sie die Rechte der Bauern zugunsten der Agrarindustrie schwächen. Sie bestätigen die Ängste der Bauernbewegung, dass am Ende die Ernährungssicherheit leidet, wenn gewinnorientierte Großkonzerne das öffentliche Versorgungssystem ins Wanken bringen.

 

Nach Auskunft einiger Verbände gibt es inoffizielle Gespräche, die Reform zumindest teilweise einzufrieren. Denn die Anliegen der Bauern finden breite Unterstützung in verschiedenen sozialen Bewegungen, darunter die National Alliance of People's Movements (NAPM), sowie einigen Jugend-, Frauen- und Arbeiterorganisationen. So verbindet sich der Protest mit Anliegen von kostenlosen Lebensmittelverteilungen, die bessere Kooperation von Landwirten und Arbeitern oder die Überwindung der strengen Trennung von Religionen, Regionen und Kasten. Insgesamt fühlen sich Bauern und Bäuerinnen selbstbewusster und trauen sich, ihre Probleme zu äußern.

 

Der Bewegung fehlt jedoch das dringend notwendige Engagement, die indische Landwirtschaft auch in ökologisch tragfähige Bahnen zu lenken.

 

Obwohl dieses Problem mit der schärfer werdenden Klimakrise immer dringlicher wird, befasst sich die Protestbewegunvordringlich damit, rechtliche Garantien für ein staatliches System von Mindestpreisen zu bekommen. Der Weg in die Zukunft wird darin bestehen, die Kosten deutlich zu senken – insbesondere durch geringere Abhängigkeiten von teurem Saatgut, Chemiedünger, Pflanzen- und Insektenschutzmitteln, Diesel usw. – und gleichzeitig auf ökologisch schonende Anbaumethoden zu setzen. Daher sollten die Garantiepreise mit einer umweltfreundlichen und nachhaltigen Landwirtschaft verbunden werden.

 

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Ein Großhandelsmarkt oder Mandi in Uttar Pradesh. Bauern befürchten, dass die Vermarktung außerhalb des "Mandi-Systems" zum Ende dieser Märkte und der gesicherten Preise führen wird. © via Facebook

Die wahre Herausforderung besteht jedoch darin, Umweltbelange mit denen der millionenfachen bäuerlichen Armut und Problemen der Ungleichheit in Einklang zu bringen. Mehr als zwei Drittel der indischen Bevölkerung lebt in Dörfern, und Land ist ein wichtiger Faktor für den Lebensunterhalt. Was den Landbesitz angeht, machen die unteren 50 Prozent der ländlichen Haushalte nur etwa 0,4 Prozent aus. In den achtziger Jahren waren es immerhin noch vier Prozent. Die oberen zehn Prozent der Landbesitzer kontrollieren hingegen 50 Prozent der Agrarflächen. Indiens Landwirtschaft braucht eine Kombination aus Umweltschutz, Maßnahmen zur Eindämmung und zur Anpassung an den Klimawandel, und einem auf Gerechtigkeit fußenden System, das auch Landlosen und kleineren Bauern Landzugang ermöglicht. Die Bauernbewegung verdient bei allen Einschränkungen breite Unterstützung, da ihr Grundanliegen begründet ist. Die Entschlossenheit und die Ausdauer der Proteste in schwierigen Zeiten haben viele Menschen beeindruckt.

 

Der Beitrag ist zuerst auf im Fachjournal der Welthungerhilfe erschienen. Erfahren Sie hier mehr

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